Re-Animatrix (Teil III)

(Teil I; Teil II)

In letzter Sekunde gelang es mir, mich von dem grausigen Anblick loszureißen und weiterzulaufen.

Ich rannte wie von allen Teufeln besessen die Straße hinunter. Das papierne Monster, das ich geschaffen hatte, war nur wenige Meter hinter mir, und ich spürte, wie meine Energie nachließ. Jeder Atemzug, jeder Schritt meiner nackten Füße schmerzte, als liefe ich über Nägel und atmete Feuer. Doch ich musste weiter, musste schneller werden, durfte auf keinen Fall aufgeben, wenn ich nicht enden wollte wie der arme Betrunkene.

Der Gedanke an ihn versetzte mir einen Stich. Er hatte mir nichts getan, ich kannte ihn nicht einmal, und doch war ich an seinem Tod schuld. Schließlich war ich es, die dieses Monster in die Welt gesetzt hatte.

Hätte ich vielleicht in der Wohnung bleiben sollen? Mich opfern, damit das Monster wenigstens eingesperrt bliebe? Doch dafür war es jetzt zu spät. Nein, ich musste einen anderen Weg finden es aufzuhalten, egal, was das kostete. Ich durfte nicht noch ein Menschenleben aufs Spiel setzen.

Ich bog um die Ecke, in eine stille Seitenstraße, in der um diese Zeit hoffentlich niemand unterwegs sein würde. Tatsächlich war sie menschenleer. Erleichtert rannte ich weiter.

Die Erleichterung hielt nicht lange an. Das Rascheln verfolgte mich noch immer, und es schien näher zu kommen. War es schneller geworden, gestärkt von seiner Beute? Oder wurde ich langsamer? Mir war klar, dass ich mein Tempo nicht mehr lange durchhalten konnte. Ich musste mir etwas einfallen lassen.

Die Straße führte an einem kleinen Park entlang. Ob ich wohl auf einen der Bäume klettern konnte? Dann erinnerte ich mich daran, wie mühelos die Tentakeln des Monsters an den Wänden meiner Wohnung emporgeklettert waren, und verwarf den Gedanken. Müde machen konnte ich es auch nicht. Selbst wenn es so etwas wie Erschöpfung kannte, so hatte es doch offensichtlich mehr Reserven als ich. Und in einem direkten Kampf hatte ich ungefähr so gute Chancen wie eine Erdbeere im Mixer.

Jetzt hatte ich fast das Ende der Straße erreicht. Ein hüfthoher Zaun schloss sie ab; dahinter war ein überwucherter Hang und dann der Kanal. Die nächste Brücke war etwa zweihundert Meter links davon.

Der Kanal – war das vielleicht die Lösung? Ich hatte keine Zeit, lang zu überlegen. In Windeseile kletterte ich über den niedrigen Zaun. Meine Finger zitterten vor Erschöpfung und Angst, und was mich sonst keine Minute gekostet hätte, drohte zum unüberwindlichen Hindernis zu werden. Schon berührte mich das erste Blatt Papier, schlang sich um meinen Fuß, zerrte mich zurück, als ich mich mit letzter Kraft fallen ließ, über den Zaun und den Hang hinab. Ich rollte durch das hohe Gras, bis mich ein Strauch aufhielt. Vermutlich war das mein Glück, denn die Böschung schloss mit einer Betonkante ab, die meinem Kopf sicher nicht gut getan hätte.

Ein kleiner Trost. Während ich mich aufrappelte, schaute ich zurück, nach oben. Das Papiermonster versuchte gleichzeitig durch den Zaun zu wuchern und ihn zu überklettern, doch schon wanden sich seine Tentakel nach mir. Ich wich ihrem Zugriff aus, geriet ins Stolpern, verlor den Halt auf dem steilen Hang und konnte mich nur dadurch senkrecht halten, dass ich drei, vier unkontrollierte Schritte nach unten machte.

Ich landete in einem Brennesselgestrüpp, doch das merkte ich schon kaum mehr. Meinem Verfolger war es inzwischen gelungen, seine Masse über den Zaun zu heben, und er brauchte keine Füße, sondern konnte sich einfach der Schwerkraft anvertrauen.

Es half nichts. Ich musste es darauf ankommen lassen. Noch zwei Schritte, dann ein beherzter Sprung ins Wasser.

Der Kanal stank, wie immer um diese Jahreszeit. So sehr ich mich bemühte, meinen Mund von der Brühe fernzuhalten, konnte ich doch nicht vermeiden, dass sie mir zwischen die Lippen spritzte. Sie schmeckte genau so, wie sie roch, und ich hätte beinahe gekotzt. Doch ich durfte nicht innehalten. Ich zwang mich loszuschwimmen.

Ein Platschen verriet mir, dass das Monster ebenfalls das Wasser erreicht hatte. Ich verdoppelte meine Anstrengungen. Wenn ich nur das andere Ufer erreichte, redete ich mir ein, wenn ich es nur bis dorthin schaffte…

Der Kanal ist nicht sehr breit, aber in dieser Nacht kam er mir vor wie ein Ozean. Ich war schon außer Atem gewesen, als ich ins Wasser gesprungen war. Zug um Zug quälte ich mich vorwärts. Das stinkende Wasser schwappte in meinen Mund und meine Nase, und eine Strömung, die ich vorher nie bemerkt hatte, zog mich zur Seite und verlängerte meinen Weg.

Irgendwann war ich sicher, dass dies mein Ende war. Ich konnte nicht mehr. Meine Kräfte waren aufgebraucht, restlos. Ich würde hier ertrinken, oder das Monster, das ich geschaffen hatte, würde mich einholen und zerfleischen und aussaugen, und dann würde es meine Leiche im Kanal zurücklassen und über die nichtsahnende Stadt herfallen, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.

Ich war bereit aufzugeben. Nur noch diesen einen Schwimmzug, und dann konnte ich auch aufhören. Wozu weiterkämpfen? Ich hatte verloren.

In diesem Augenblick stießen meine Finger gegen etwas Hartes. Die Ufermauer! Ich hatte die andere Seite des Kanals erreicht.

Doch was sollte ich jetzt tun? Die Mauer endete etwa einen halben Meter über der Wasseroberfläche, aber in meinem Zustand hätte es auch ein Kilometer sein können. Ich reckte einen Arm nach oben, aber alles, was ich erreichte, war ein Schwall Dreckwasser in meinem Mund. Ich hätte heulen können. So nah dran, und doch so weit entfernt.

Die Strömung schob mich an der Mauer entlang, in Richtung Brücke. Ich ließ es geschehen. Mich dagegen zu wehren hatte ich längst keine Kraft mehr. Ich schloss die Augen und versuchte, meinen keuchenden Atem unter Kontrolle zu bringen.

Als ich sie wieder öffnete, sah ich die Brücke fast über mir – und davor etwas Glänzendes. Eine Leiter!

Ich ließ mich von der Strömung zu ihr treiben und klammerte mich daran fest. Meine Finger wollten mich nicht halten, also schlang ich die Arme um die Sprossen und zog mich so hoch, Zentimeter für Zentimeter. Irgendwann hatte ich tatsächlich das obere Ende erreicht. Ich brach am Fuß der Böschung zusammen, die hier ebenso steil war wie gegenüber.

Dann fiel mir mein Verfolger wieder ein. Ich hob den Kopf und schaute auf den Kanal. In seiner Mitte zeichnete sich eine helle Masse in dem dunklen Wasser ab. Papierne Tentakel schossen daraus hervor und paddelten unbeholfen.

Ich konnte ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. War das alles, was ich erreicht hatte? Ein Vorsprung von vielleicht fünf Metern? Ich wusste, ich musste wieder aufstehen, die Böschung erklimmen und weiterlaufen, aber ich konnte es nicht. Ich war am Ende. Hilflos beobachtete ich das Monster, wie es langsam, aber hartnäckig den Kanal überquerte.

Doch seine Bewegungen wurden langsamer, fiel mir auf. Die Tentakel, die sich aus dem Wasser hoben, waren schwerfällig, und immer wieder riss ein Stück triefnassen Papiers von ihnen ab. Es kam näher, und jetzt sah ich, dass um das Wesen herum Fetzen im Wasser trieben. Die Tinte hatte sich von ihnen gelöst, ihre scharfen Kanten waren aufgequollen und harmlos, und sie bewegten sich nicht mehr. Das Monster, das seitdem ich es mit dem Serum zu untotem Leben erweckt hatte gewachsen war, hatte begonnen zu schrumpfen.

Mein Schluchzen verwandelte sich in Lachen. Es war kein heiteres Lachen, und es war nah an der Hysterie, aber nun hatte ich wenigstens neue Hoffnung. Ich hatte etwas gefunden, was meine Schöpfung aufhalten konnte.

Während ich langsam wieder zu Atem kam, nagte das Wasser weiter an meinem Verfolger. Schließlich erreichte er die Leiter und schlang seine verklebten, matschigen Arme darum, um sich hochzuziehen. Er hatte noch etwa die Größe eines kleinen Hundes. Mit einem nassen, kläglichen Geräusch glitt er über den Mauerrand und schlug mit seinen Tentakeln nach mir. Ich riss ihn mit einer Hand von mir ab und warf ihn zurück in den Kanal, wo er noch einmal hilflos zappelte und dann versank.

Der Alptraum war vorbei. Meine Leichen waren wieder tot, und ich schwor mir noch in derselben Nacht, dass ich nie wieder versuchen würde, sie zum Leben zu erwecken.

(12./19.02.2014, 1313 Wörter. Puh, geschafft!)

Teil I
Teil II

7 Kommentare

  1. Und gut ist es geworden! Nun ruht es am Grund des Wasser, träumt von Tinte und großen Taten. ;-)

  2. Sehr schöne Geschichte, vor allem das wässrige Ende. Ich hab ja schon halb damit gerechnet, dass das Monster am Ende in Flammen aufgeht, ist ja shcließlich Papier. Aber Wasser ist natürlich auch gut:-)

    1. So ein Kanal ist halt einfach greifbarer als ein Feuerzeug, wenn man im Schlafanzug durch die nächtliche Stadt rennt ;-)

      1. Das stimmt natürlich auch wieder.

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