Vielen Dank für Ihre Reise mit der Deutschen Bahn

„Sehr geehrte Damen und Herren, herzlich willkommen an Bord des ICE 4711 nach Berlin. Wir haben München mit einer Verspätung von siebenundvierzig Minuten verlassen, für die wir noch nach einer adäquaten Ausrede suchen. Wie bitte? Nein, ‚Verzögerungen im Betriebsablauf‘ haben wir dieses Quartal schon einhundertachtundneunzig Mal verwendet und damit unsere Quote erschöpft. ‚Triebwerksschäden‘ geht aus demselben Grund nicht, und wenn wir heute noch einmal auf ‚Personenschäden‘ zu sprechen kommen, denken die Leute womöglich, Bahnfahren sei gefährlich. …Oje, war das Mikro etwa die ganze Zeit an? Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte mich ausdrücklich für diesen Zwischenfall entschuldigen. Selbstverständlich werden wir Sie informieren, sobald wir den Grund für unsere Verspätung von der Leitstelle erfahren. …Sag mal, wie schaltet man das Ding denn jetzt eigentlich aus? Hier? Ah, nein, das hier müsste es-“

Der Lautsprecher verstummt, und ich lehne mich zurück und hole mein Buch heraus. Wenigstens ist es schön warm im Zug, ganz im Gegenteil zu dem zugigen Bahnsteig, auf dem ich soeben siebenundfünfzig Minuten (denn ich bin, um den Zug nicht zu verpassen, zehn Minuten vor der planmäßigen Abfahrt auf den Bahnhof gekommen) warten musste. Da kann man die sechs Stunden Fahrt schon aushalten. Und mein Buch ist ja auch ganz spannend.

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„Sehr geehrte Damen und Herren, wir erreichen in wenigen Minuten unseren nächsten planmäßigen Halt in Nürnberg Hauptbahnhof mit einer Verspätung von derzeit noch einundvierzig Minuten. Der Regionalexpress nach Kleinkleckersdorf hat noch auf uns gewartet; bitte bereiten Sie sich seelisch auf den geballten Hass der bereits zugestiegenen Passagiere vor. Der ICE nach Frankfurt/Main Hauptbahnhof hat noch mehr Verspätung und wird erst eine Viertelstunde nach unserer Ankunft in Nürnberg eintreffen. Alle anderen Anschlusszüge haben Sie leider verpasst. Bitte wenden Sie sich an unsere Mitarbeiter am Servicepoint. Die momentane Wartezeit liegt bei zirka achtundsiebzig Minuten. Wenn Sie sich das nicht antun wollen, achten Sie auf die Lautsprecherdurchsagen am Bahnsteig und werfen Sie einen Blick auf die Abfahrtstafel. Wer hat diesen Durchsagetext eigentlich geschrieben? Das klingt ja, als würden wir die Fahrgäste für blöd halten. Ist das Mikro immer noch an? Kann bitte jemand-“

Wow, wir haben bis Nürnberg tatsächlich sechs Minuten reingeholt? Wer hätte das gedacht! Vielleicht geht das so weiter, und wir haben bis Berlin nicht mehr allzu viel Verspätung. Ich lächle zufrieden und vertiefe mich wieder in mein Buch.

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„Sehr geehrte Damen und Herren, wir erreichen in wenigen Minuten unseren nächsten planmäßigen Halt Naumburg (Saale) Hauptbahnhof mit einer Verspätung von derzeit nur noch fünfzig Minuten. Ihre Anschlusszüge konnten leider nicht auf Sie warten, und der Servicepoint ist wegen einer Weihnachtsfeier geschlossen. Bitte achten Sie auf Lautsprecherdurchsagen am Bahnsteig und – nee, also, ich les das jetzt nicht nochmal so vor. Sie sind ja alle erwachsene Menschen, Sie kriegen das schon hin.“

Moment mal. Fünfzig Minuten? Bis Jena waren wir doch noch dabei, die Verspätung aufzuholen, und jetzt einfach so fünfzig Minuten? Eigentlich sollte es von Jena bis Naumburg nur eine halbe Stunde sein… Ich muss mich verhört haben. Kopfschüttelnd lese ich weiter.

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„Sehr geehrte Damen und Herren, wie Sie vielleicht bemerkt haben, haben wir auf freier Strecke gehalten. Bitte bleiben Sie auf Ihren Plätzen und versuchen Sie nicht auszusteigen; die Türen sind ohnehin verriegelt. Wir werden Sie in Kürze darüber informieren, wann wir an unserem nächsten planmäßigen Halt in Bitterfeld ankommen werden. Falls wir ankommen werden… Verdammt, warum tut dieser blöde Ausschaltknopf-“

Ich seufze. Na toll. Wie lang wir hier wohl wieder feststecken? Und eine Begründung ist ihnen natürlich auch wieder nicht eingefallen. Ob da wohl noch was nachkommt? Tatsächlich, das Mikrofon erwacht kurz danach wieder zum Leben.

„Sehr geehrte Damen und Herren, da sich unser Aufenthalt voraussichtlich noch etwas hinzieht, möchte ich die Zeit nutzen, um Sie auf unser kulinarisches Angebot hinzuweisen. Im BordBistro erhalten Sie schmackhafte Kleingerichte zu überhöhten Preisen sowie diverse Heiß- und Kaltgetränke. Außerdem geht ein Kollege mit frischem Kaffee durch die Waggons, und wenn sie Glück haben, ist noch ein bisschen Restwärme in der Plörre, bis Sie sie bekommen. Bitte sprechen Sie ihn einfach an, und lassen Sie sich nicht von seinem ruppigen Äußeren abschrecken, er hat ein Herz aus Gold. Das behauptet jedenfalls seine Mutter, und ich würde nicht wagen, dieser Frau zu widersprechen.“

Das war eigentlich nicht ganz die Information, die ich erhofft hatte. Auf BordBistro habe ich momentan auch keine Lust, und so ganz geheuer ist mir der Kollege mit dem frischen Kaffee auch nicht. Lieber schlage ich wieder mein Buch auf.

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Zwei Kapitel später setzt sich der Zug in Bewegung.

„Sehr geehrte Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir dann doch noch unseren nächsten planmäßigen Halt in Bitterfeld, mit schlappen neunzig Minuten Verspätung. Unsere Kollegen teilen schon mal Fahrgastrechte-Formulare aus. Wenn Sie sie im Zug ausfüllen, können Sie bereits an Ihrem Zielbahnhof Ihr Geld erhalten. Die Lebenszeit, die Sie in unserem Zug verlieren, kann leider nicht zurückerstattet werden. Wir bitten um Ihr Verständnis.“

Eine Schaffnerin – zum Glück nicht ihr Kollege mit dem Herz aus Gold – reicht mir einen Umschlag mit dem Fahrgastrechte-Formular. Ich nehme ihn dankbar entgegen. Wenigstens kann ich ein paar Euro zurückfordern, anders als bei der Gelegenheit, bei der ich mit dem Schönes-Wochenende-Ticket unterwegs war. Was machen eigentlich Inhaber der Bahncard100 in so einem Fall?

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„Sehr geehrte Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir unseren nächsten planmäßigen Halt Berlin Hauptbahnhof mit derzeit sechsundachtzig Minuten Verspätung. Ich weiß gar nicht, warum ich mich so bemühe, ein paar Minuten wieder reinzuholen, aber es ist der gute Wille, der zählt, nicht wahr? Ihre Anschlusszüge haben Sie vermutlich alle verpasst, da brauche ich gar nicht mehr nachzuschauen. Dafür hat der Servicepoint hier durchgehend geöffnet, das ist doch auch mal was! Wie dem auch sei, dieser Zug endet hier. Vielen Dank für die Reise mit der Deutschen Bahn. Ich hoffe, wir haben Sie nicht komplett abgeschreckt.“

Ich packe mein Buch ein. Fliegen wär schneller, denke ich nicht zum ersten Mal, aber dann hieve ich meinen Koffer von der Gepäckablage, und mir fällt ein, dass Air Berlin kürzlich wieder den Aufpreis für Übergepäck erhöht hat, und dann trinke ich einen Schluck aus der Eineinhalbliterflasche in meinem Rucksack und denke an meine letzte Begegnung mit dem Flughafen-Sicherheitsdienst, und ich weiß genau, ich werde wieder mit der Deutschen Bahn fahren.

(03.01.2014, 1036 Wörter. Ob ich heute Bahn gefahren bin? Wie kommt ihr darauf?

An dieser Stelle muss ich aber zur Ehrenrettung der Deutschen Bahn AG anmerken, dass wir auf dieser Fahrt keine Verspätung und dafür durchgehend freundliche und kompetente Zugbegleiter hatten. Aber das wäre ja eine langweilige Geschichte, nicht wahr? ;-) Was ich über das BordBistro gesagt habe, nehme ich aber nicht zurück. Ätsch.)

8 Kommentare

  1. Einfach köstlich!!!! Weiter so!

  2. Geniale 1036 Wörter. Ob ich mal wieder Bahn fahren soll? :D
    LG

    1. Danke :-)

      Nur wenn du die Zeit dafür hast ;-) Scherz beiseite, meistens finde ich Bahnfahren ganz entspannt, und man kommt dabei auch gut zum Lesen/Schreiben ;-)

      1. Ich bin vor einigen Jahren oft mit der Bahn gefahren. Das war immer (ent)spannend. Menschen am Bahnhof sind toll. Zur Zeit habe ich keine. Wir waren lange genug unterwegs. Im Autole :D

      2. Tja, Autofahren ist mir zu stressig… und inzwischen fehlt mir auch die Übung, ich würde wahrscheinlich fahren wie ein Anfänger in der ersten Fahrstunde. Das will ich den anderen Verkehrsteilnehmern nicht antun ;-)

        Aber Menschen gucken ist spannend, da hast du Recht!

  3. Brigitte · · Antworten

    „Gegenentwurf“ und kein Wort gelogen:
    http://www.hutt-edv.de/fernbus.html

    1. Stimmt, an die Möglichkeit, Fernbus zu fahren, hatte ich gar nicht gedacht. Hauptsächlich, weil mir schon bei der Vorstellung, stundenlang im Bus zu sitzen, der Hintern weh tut… Nach deinem Bericht zu schließen, habe ich aber auch nichts verpasst :-)

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