Graustufen

Es begann mit Regen. Der Himmel war grau verhangen, die Wolken so schwer und tief und der Regen so dicht, dass man meinen konnte, sie reichten bis auf den feuchtdunklen Asphalt. Das wenige Sonnenlicht, das es durch den Wasserschleier schaffte, ließ alles trüb und farblos erscheinen.

Es regnete den ganzen Tag und die ganze Nacht, und als am nächsten Morgen die Wolken endlich aufrissen, sah die Stadt noch immer matt aus, als läge noch immer ein Schleier über ihr, oder als hätte der Regen sie ausgewaschen.

Sicher nur eine Sinnestäuschung.

Ein paar Tage später zog es wieder zu, und die Stadt verschwand erneut unter der Wolkendecke und verschwamm im Regen. Grau überzog die tropfenden Dächer, Grau überzog die nassen Straßen, Grau überzog den Himmel und die Erde und alles dazwischen, und selbst das Gras und die Bäume verloren ihr Grün und verblassten im Wasser, das unnachgiebig fiel und fiel und alle Farbe mit sich wusch.

Es regnete den ganzen Tag und die ganze Nacht, und als sich am nächsten Morgen die Wolken endlich wieder zurückzogen, war der Himmel noch immer blass, und die Pflanzen hingen tropfend und nass über grauer Erde. Der Grauschleier über der Stadt hatte sich nicht mit den Wolken verzogen, er hing noch immer über ihr wie ein nasses Tuch, und Farben waren schwer zu unterscheiden.

Sicher nur eine Sinnestäuschung.

Eine Woche danach kamen die Wolken zurück, und der Regen und das Grau, und dieses Mal glaubten manche, in den Rinnsteinen und Pfützen Spuren der ausgewaschenen Farben zu sehen, schillernde, bunte Streifen, die in den Gullys verschwanden. Sicher nur Ölspuren, meinten andere.

Wie dem auch sei, es regnete den ganzen Tag und die ganze Nacht, und als es am nächsten Morgen trocken war, konnte niemand sicher sein, ob die Wolken tatsächlich fort waren, denn der Himmel war noch immer grau. Die Sonne schien zwar, doch ihr Schein war nicht gelb und warm, sondern weiß und kränklich. Die Straßen waren so grau wie immer, aber auch die Autos, die darüber fuhren und die Bäume an ihrem Rand und die Häuser zu ihren Seiten waren grau, hellgrau mittelgrau dunkelgrau, aschgrau mausgrau rauchgrau, silber schiefer anthrazit.

Die Menschen sahen einander in die grauen Augen und wandten sich wieder ab. Sie sahen in den blassen Himmel und senkten den Blick. Nach ein paar Tagen wurde es schwer, in dem fahlen, schwächlichen Nichtlicht wach zu werden, und immer mehr kamen zu spät zur Arbeit oder zur Schule, weil sie einfach nicht aus dem Bett gekommen waren. Sie hörten auf, einander Blumen zu schenken, denn alle Blumen waren grau, und sie hörten auf, einander Komplimente zu machen, denn alle Züge verschwammen in dem ewigen Grau. Die grauen Haare ließen jeden älter aussehen, und nach und begannen die Menschen, sich auch so zu fühlen.

Und mit jedem weiteren Regen wurden selbst die Grautöne ausgewaschen, bis sie sich kaum mehr unterschieden.

Alles wurde langsamer. Autos mussten vorsichtiger fahren, denn die Ampeln waren schwer zu sehen, und die grauen Gestalten der Fußgänger und Radfahrer hoben sich nur wenig von dem grauen Hintergrund ab. Die Menschen gingen langsamer, denn es war nicht leicht, sich in dieser einförmigen Welt zurechtzufinden. Entscheidungen waren schwierig, sah doch alles gleich aus, und so begannen die Langsamkeit und das Grau auch in die Gedanken der Menschen zu sickern. Viele verließen das Haus nur noch, wenn es unbedingt nötig war. Es gab wenig, das noch Freude machte. Man aß aus Hunger, ohne etwas zu schmecken, und schlief viel, in der Hoffnung, dass wenigstens die Träume noch bunt waren.

Es schien, als sei mit den Farben auch jede Hoffnung verloren.

Nicht alle jedoch wollten aufgeben, und eines Tages, als es trocken war und die Sonne bleich von einem blassen Himmel schien, rafften sich ein paar Leute auf. Sie hatten Farben aus einer anderen, noch nicht ausgewaschenen Stadt bestellt, und an diesem Tag verteilten sie sich in der Stadt und begannen, die Häuser bunt zu streichen. Grün, rot, blau, gelb, orange, violett – alle Farben des Regenbogens verteilten sie über Wände und Straßen, hinauf bis auf die Dächer und hinab bis in die Keller, und am Ende dieses Tages sah die Stadt wieder ein bisschen fröhlicher aus.

Am nächsten Tag regnete es. Das Wasser strömte über die frisch gestrichenen Dächer und schwemmte die Farbe in die Regenrinnen. Es wusch die bunten Wände und spülte die Farbe in die Rinnsteine. Es floss über die farbigen Straßen und leckte die Farbe in die Kanalisation. Es regnete den ganzen Tag und die ganze Nacht, und als sich die Wolken am nächsten Morgen endlich wieder auflösten, war die Stadt wieder grau wie eh und je.

Nur an ein paar Ecken, unter vorspringenden Dächern und im Windschatten von Bäumen und in Pfützen, die eintrockneten, anstatt abzufließen, war ein wenig Farbe hängengeblieben.

Ganz wenig nur.

Kaum mehr als ein Schimmer.

Aber genug, damit am Tag darauf die Leute wieder loszogen, mit Farbeimern und Pinseln in der Hand.

 

(04.-07.02.2016, 816 Wörter)

4 Kommentare

  1. Apropos schlechtes Wetter: Österreich beschließt Obergrenze für Regen

    Obergrenze für Regen beschlossen

    1. Das ist mal eine gute Idee!

  2. Sehr schöne Geschichte!

Hinterlasse eine Antwort zu gudrunlerchbaum Antwort abbrechen